Wir lesen und hören nahezu jeden Tag, wie wichtig es ist, sich weiterzuentwickeln, nicht stehen zu bleiben und – – – sich zu verbessern, sich zu optimieren und vor Allem schneller zu werden. Wir lernen immer früher, wie kurz das Leben ist, um doch all die wichtigen Dinge zu schaffen!

Anforderungen von klein an

Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bleibt wenig Zeit für eine Entwicklung in ihrem eigenen Tempo.

  • Schon kleine Kinder dürfen im Kindergarten nicht „spielend“ und altersgemäß lernen, wir nutzen diese frühkindliche Fähigkeit lieber, um die Kinder „spielend“ auf das Leben, oder eher: auf das Arbeitsleben vorzubereiten, beispielsweise an Fremdsprachen und Computer heranzuführen.
  • Die Hauptschule ist nicht mehr gut genug, weil das Niveau für die berufliche Zukunft nicht mehr ausreicht. Das Abitur musste um ein Jahr verkürzt werden, um schneller in die gleichzeitig verkürzte – und „verschulte“ – Hochschulausbildung zu wechseln, was wiederum dazu führte, nach einem Jahr wegen der Überforderung der Gymnasiasten den Wissensanspruch herunterzufahren. Später wurde das 13. Schuljahr wieder eingeführt …
  • Das Studium schaffen am ehesten diejenigen, die ein hervorragendes Lerngedächtnis besitzen.

Schnelligkeit versus Kreativität

Prof. Dr. Gerald Hüther – bekannter deutscher Hirnforscher – hat im Rahmen einer Studie festgestellt, dass Kinder nach ihrer Geburt zu 98 % hochbegabt sind, nach der Schule lediglich noch zu 2 %. Das liegt vor Allem an der Art der Wissensvermittlung unter Lerndruck und durch Wissensvorgabe, was bei den Schülern zu Ängsten führt, etwas falsch zu machen. Gleichzeitig erfordert jedoch die Fähigkeit zur Weiterentwicklung, Eigenschaften wie Begeisterung, Neugierde und Kreativität zu besitzen.

„Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“ – macht es demnach wirklich immer Sinn, Alles noch schneller machen zu wollen? Die Natur hat sich evolutionär entwickelt, und sie hat sich Zeit dazu gelassen. Warum wohl? Weil die Natur keine Eile hat, für sie gibt es keinen zeitlichen Druck, keine besondere Erwartungshaltung, außer zu überleben und die Arten zu erhalten. Natürlich passt sich die Natur Veränderungen an, auch sehr plötzlichen; viele Menschen glauben jedoch scheinbar, dass sie die Naturgesetze einfach ignorieren können, weil – – – ja, warum eigentlich?

Technik im Fokus

„Alle Jahre wieder“ kommt eine neue Management-Methode, die im Kern nicht neu, dafür mit neuem Namen versehen ist. Sie ist dann vielleicht ausgefeilter als die davor, mit mehr Details noch präziser definiert.

Um also die permanente Weiterentwicklung in der sich zunehmend schneller drehenden Zeitspirale zu stemmen, bedarf es nach Meinung vieler Menschen besonderer Werkzeuge und Techniken, die nicht nur das Arbeiten erleichtern, sondern auf das absolut Notwendige reduzieren. Verschwendung – nein danke. Effizienz und Effektivität – ja. Kontinuierliche Verbesserung, Fehlervermeidung und höchste Qualität – ohne Frage. Und schnell muss es sein. „Agil“ und „lean“ heißen zwei Zauberworte, und aktuell natürlich „KI“.

„Agil“ unterwegs

Bei Agilität geht es letztlich darum, sich so aufzustellen, dass man schnell auf sich verändernde Marktanforderungen reagieren kann. Wie das erreicht werden kann, sehe ich als individuelle Herausforderung an.

Ein Unternehmen ist nicht wie das andere, selbst in der gleichen Branche. Und ob nun „Prototyping“, „iterative“ Vorgehensweisen, flache bis keine Hierarchien, interdisziplinäre „cross-funktionale“ Team-Arbeit oder „organisierte Selbstverantwortung“ immer die geeigneten Mittel zum Unternehmenserfolg sind? Wir laufen meiner Meinung nach Gefahr, alle Menschen mit ihrer Herkunft, Kultur, Lebensweise, Arbeitsweise und -fähigkeiten gleichmachen zu wollen. Sind wir tatsächlich Alle gleich, macht das Sinn?

Komplizierte, langwierige Prozesse zu verbessern, ist nicht neu, sondern basiert auf bereits jahrzehntelangen Erkenntnissen aus Kosten- und Qualitätsgedanken heraus. Und wenn wir global denken: Ist Schnelligkeit im Business wirklich eines der drängendsten Probleme unserer Zeit?

Der „Lean“-Gedanke

Ein weiteres gutes Beispiel sehe ich in der Thematik „Lean“, also schlank und effizient, ohne Verschwendung, möglichst fehlerfrei und höchste Qualität. Mitte der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte das Automobilunternehmen Toyota mit seiner Massenproduktion handfeste Absatzprobleme. Durch den neuen methodischen Ansatz „Lean Production“ wurden mehr Ordnung, Sauberkeit und Qualität erzielt und dabei die Mitarbeiter als wesentlicher Teil der Veränderung angesehen: Gute und hoch qualifizierte Mitarbeiter = gute Autos.

Die westliche Welt hat diesen Ansatz des „Lean“ später nicht nur übernommen, sondern – ganz ihrer Mentalität entsprechend – bis hin zur ganzheitlichen Führungsphilosophie „Lean Management“ mit dem Ziel „weiterentwickelt“, dies in allen Unternehmensbereichen einzuführen.

Doch wie vergleichbar ist die europäische Kultur mit der japanischen Kultur? Während ich die Idee, „Werte ohne Verschwendung zu schaffen“, durchaus unterstützen kann, stellt sich mir die Frage, ab wann das Verfolgen einer solchen Idee zu einer starren, dogmatischen und fast schon „religiösen“ Verhaltensweise wird.

  • Ab wann ist eine Führungskultur zu eng und zu starr?
  • Wie sinnhaft ist es, Besprechungen mit einer Stoppuhr zu steuern?
  • Wer kann im Vorfeld festlegen, welcher Redebeitrag wie lang sein darf, wenn es um Austausch, Konsens, Verstehen oder Überzeugung geht?
  • Wie viel Zeit braucht Qualität?
  • Wie nachhaltig ist die Vorgehensweise, jedes morgendliche Treffen mit einem individuellen Stimmungsbarometer und der Präsentation von persönlichen „Erfolgen“ als Ritual zu beginnen?

Mein Empfinden ist, dass damit aus Hilfe „Zwang“ wird. Wie wird eine selbstkritische Reflexion sichergestellt?

KI ist der „Game Changer“?

KI ist für viele der Game Changer, der alles richten soll. KI kann bereits sehr viele Aufgaben deutlich schneller, effektiver und effizienter als Menschen erfüllen; das ist sicherlich richtig – und spart Geld.

KI ist jedoch immer von Menschen programmiert, enthält also Algorithmen, die auf eine Zielsetzung ausgerichtet und mit Rahmenbedingungen versehen sind. Diese Zielsetzung und Rahmenbedingungen sind dem allgemeinen Nutzer weitestgehend verborgen, können daher Aktivitäten durchführen oder Ergebnisse produzieren, die nicht unbedingt vom Designer gewünscht sind oder im Interesse der Nutzer liegen müssen.

Wie immer gibt es Euphorie, was alles technisch möglich ist. Die Ethik und die Verifizierung der Ergebnisse bleiben allerdings weitgehend auf der Strecke. Nur vereinzelt hören wir Stimmen, mehr Fokus darauf zu legen. Im Allgemeinen werden Vorbehalte jedoch als Ausbremsen des Fortschritts gewertet.

Was wir meiner Ansicht nach brauchen, ist eine offene und kritische Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen.

Gedanken zu moderner Führung

Und der Führungsstil soll sich selbstverständlich den genannten Trends entsprechend ausrichten oder ist bereits Teil davon. Schnell, „agil“ und „lean“ zu sein, erfordert hochflexible, selbst-steuernde Teams. „Revolutionäre“ Führungsmethoden werden entwickelt: „Demokratisches Führen“ durch Gleiche unter Gleichen („Holacracy“), „paralleles Arbeiten mit hoher kommunikativer Vernetzung in einer voll digitalisierten Welt“, Möglichkeiten für eigenverantwortliches Arbeiten an allen Orten zu jeder Zeit.

Selbst Führungsaufgaben an KI abzugeben, wird nicht nur diskutiert, sondern tatsächlich erprobt. Vorteil soll sein, dass sich die Führungskräfte auf die tatsächlichen Führungsaufgaben konzentrieren können. Wie denken Sie darüber?

Es wird nicht gefragt, ob die Menschen das fachlich, körperlich, mental können oder wollen; es wird teilweise nicht einmal gefragt, ob die neuen Standardvorgehensweisen bei jedem Prozess und bei jeder Tätigkeit wirklich passen. Es wird vielmehr postuliert, dass das heute die Anforderungen seien und wir uns danach auszurichten hätten. So einfach und unabdingbar ist das also, quasi ein Naturgesetz? Ich persönlich habe da meine starken Zweifel, wenngleich Veränderungen grundsätzlich natürlicher Teil des Lebens sind.

Wie erreiche ich eigenmotivierte Mitarbeiter?

Welche Art von Führungskräften und Mitarbeitern wünschen wir uns? Wie realistisch ist das als Führungskraft für Sie: Mitarbeiter sollen möglichst „funktionieren“ und „ausgerichtet“ sein und doch gleichzeitig kreativ, eigenständig und damit motiviert? Wir wissen aus der Hirnforschung, dass Kreativität Zeit braucht: Wie viel Zeit nehmen Sie sich für die wichtigste Ressource, den Menschen?

„Führen ist die Beeinflussung der Einstellungen und des Verhaltens von Menschen zur Zielerreichung“. Meiner Wahrnehmung nach wird dieses Führen jedoch ganz bewusst immer mehr „instrumentalisiert“ und auf rationale Werkzeuge und Techniken reduziert. Die „Drohkulisse“ lautet, der Markt erfordere das, andernfalls werde das Unternehmen vom Markt verschwinden. Wer genau ist „der Markt“? Welche Neuerungen erwartet der Markt wirklich, und welche davon sehr schnell? Und spielen politische Entscheidungen und Maßnahmen nicht gerade heute eine besonders herausragende Rolle?

Leistungsbereitschaft als Ziel

Wertschätzung kann als bedingungslose Akzeptanz, Achtung und Anerkennung beschrieben werden. Zeit und Verständnis für „Menschlichkeit“ und Wertschätzung bleiben bei den oben genannten Ansätzen jedoch nicht.

„Nicht geschimpft ist schon genug gelobt“ wird zwar heute niemand mehr als richtig beschreiben wollen; doch in Zeiten der Erwartung an Schnelligkeit, Höchstleistungen und permanenten Leistungssteigerungen wird es scheinbar zunehmend schwer, ehrlich und ernsthaft zu loben. Die Erkenntnis zu loben ist zwar wieder da; doch Urkunden und Medaillen sind die neuen – aus meiner Sicht instrumentalisierten – Formen des Lobes geworden. Der Wettkampfgedanke soll motivieren und Höchstleistungen bringen – und produziert auch „Verlierer“.

Ich habe das Gefühl, dass hier die extrinsische Motivation wieder Überhand über die intrinsische gewinnt und dabei wertvolle menschliche Ressourcen mental und tatsächlich verloren gehen.

Rolle der Führungskraft

Welche Sichtweise haben Führungskräfte auf Mitarbeiter? Welche Art der Ausbildung erfahren heute Führungskräfte? Werkzeuge und Techniken sind als Basiselemente der Führung notwendig, reichen jedoch für ein überzeugendes und nachhaltiges Führen mit Personalautorität bei weitem nicht aus; Mitarbeiter spüren das. Vielleicht macht eine Rückbesinnung auf die eher „einfachen“ Grundsätze der Führung Sinn?

Eine nach wie vor sehr häufig vertretene Ansicht ist, dass ein Zeitansatz für „echte“ Führungsaufgaben von beispielsweise 30 % mehr als ausreichend sei – eine Führungskraft soll ja durch eigene operative Arbeit „Geld verdienen“!

Ich sehe das anders: Eine Führungskraft hat die Aufgabe, alle Kraft darein zu setzen, das Team bestmöglich zu befähigen und zu begeistern – und auf diese Art Geld zu verdienen.

Zum Schluss eine Klarstellung

Veränderungen gehören zum Leben, sie sind notwendig und wichtig; manchmal müssen sie auch „disruptiv“, also „zerstörerisch“ sein. Entscheidend ist, konstruktiv damit umzugehen, dabei wertschätzend zu bleiben und nicht in Extrema wie Dogmen zu verfallen oder ethische Grundsätze zu ignorieren. Das können wir erreichen, wenn wir uns und unsere Standpunkte regelmäßig kritisch durch Reviews und Feedback hinterfragen. Damit können wir extreme Verhaltensweisen, die mehr schaden als nutzen, vermeiden. Werkzeuge, Techniken und Methoden für sich genommen sind nützlich und wichtig – doch auch hier sollte Augenmaß gewahrt bleiben, sonst wird aus gut Gemeintem schließlich doch ein Dogma!

Ich freue mich über Ihr Feedback, gern persönlich,
herzlichst
Ihr Christian Nourney

 

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