Es beginnt ganz harmlos. Eine Gruppe von Nachbarn trifft sich regelmäßig in lockerer Runde, klönt ein wenig und hat einfach Spaß am Zusammensein. Aus einer kleinen Handvoll Menschen ist nun eine mittlerweile doppelt so große Runde geworden. Es werden gemeinsame Feste für die Nachbarschaft der näheren Umgebung organisiert, die Leute kommen gern und bleiben lange. Alle sind richtig happy!

Wie aus Harmonie ein Streit entstehen kann

Doch eines Tages an einem späten Abend, während sich Alle zu Hause befinden, gibt es dann einen kleinen Vorfall: Dem Nachbarn A aus der Runde dauert die laute Musik-Beschallung des Nachbarn B, verbunden mit Karaoke, etwas zu lang. Der Nachbar A klingelt also beim befreundeten Nachbarn B und bittet ihn freundlich darum, die Musik etwas leiser zu machen. Der Nachbar B reagiert unmittelbar mit heftigem Zorn und schlägt die Tür mit einem lauten Knall zu. Kurze Funkstille. Dann öffnet die Ehefrau von Nachbar B – am ganzen Körper zitternd – die Tür und erklärt dem Nachbarn A, dass die Musik bis 22 Uhr so laut sein dürfe.

Ein am folgenden Tag gewünschtes Gespräch von Nachbar A mit Nachbar B über dessen emotionalen Ausbruch wird von Letzterem abgelehnt, dies auch alle kommenden Tage danach. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Nachbarschaftsgruppe leidet zunächst scheinbar nicht darunter; die anderen Gruppenmitglieder tun nach außen hin so, als sei Alles normal, als hätte es diesen Streit innerhalb der Gruppe nicht gegeben. Doch unter der Oberfläche hat es einen „Knacks“ gegeben.

Verletzte Bedürfnisse

Haben Sie einen derartigen Streit auch schon einmal erlebt? Waren Sie vielleicht sogar einer der Streitenden oder gehörten Sie dem Rest der Gruppe an? Wie haben Sie selbst reagiert? Empfanden Sie Ihr Handeln angemessen, oder wie hätten Sie im Nachhinein gern gehandelt?

Ein Streit zwischen Menschen kann leicht entstehen, doch ein Konflikt entsteht aus verletzten Bedürfnissen. Er entzündet sich oftmals an den scheinbar kleinen Dingen, und doch zeigt eine heftige emotionale Reaktion, dass mehr dahinterstehen muss. Aus der Verhaltenspsychologie ist bekannt, dass ein Mensch sehr heftig und emotional reagiert, wenn er empfindet, seine Bedürfnisse würden grob missachtet oder in Frage gestellt. Solche Bedürfnisse liegen oftmals im Verborgenen und sind den betroffenen Menschen nicht unbedingt selbst bewusst; sie fühlen sich jedoch stark verletzt. Solche Bedürfnisse können beispielsweise Wünsche nach Harmonie, nach Ordnung oder nach Freiheit sein.

Das „Aussitzen“ eines Konflikts führt nicht zu dessen Lösung, der Konflikt bleibt „kalt“ bestehen und kann jederzeit wieder „heiß“ aufleben. Eine Konfliktlösung ist daher tatsächlich nur dann zu erreichen, wenn beide Seiten wirklich dazu bereit sind.

Das Bedürfnis von Nachbar A war es vielleicht, die Privatsphäre am Abend in Ruhe und Entspannung genießen zu können. Aus Sicht des Nachbarn B wurde möglicherweise durch die Bitte, die Musik leiser zu stellen, das Bedürfnis nach Freiheit bzw. Unabhängigkeit massiv beeinträchtigt. Die freundliche Bitte von Nachbar A konnte Nachbar B gar nicht als solche wahrnehmen, denn durch den Wunsch nach Reduzierung der Lautstärke fühlte er sich persönlich eingeschränkt.

Grenzen setzen – innere Grenzen überschreiten

In welchem Zusammenhang steht nun der mittlerweile zu einem Konflikt gewordene Streit zu den Fragen nach Grenzen setzen oder innere Grenzen überschreiten?

  • Nachbar A hatte Beides getan.
    Den Nachbarn aus der Nachbarschaftsgruppe mit einer Bitte nach mehr Ruhe anzusprechen, war ein Schritt aus der eigenen Komfortzone heraus. Zum einen war es ein wichtiger Schritt, seine eigenen Bedürfnisse nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch zu äußern. Zum anderen hat er eine implizit von den Gruppenmitgliedern gesetzte Grenze überschritten. Die implizite Gruppenregel lautete in etwa: „Du bist Teil der Gruppe, störe die Harmonie nicht!“
    Die Bitte von Nachbar A war das Setzen einer Grenze „bis hierher und nicht weiter“.
  • Wie hatte Nachbar B reagiert?
    Er hatte zunächst sehr deutlich seine Grenze gesetzt und die Tür unüberhörbar zugeworfen. Doch er schaffte es nicht, seine selbst gesetzten Grenzen zu überschreiten und sich einem klärenden, möglicherweise unangenehmen Gespräch mit dem Nachbarn A zu stellen.
  • Und was haben die übrigen Nachbarschaftsmitglieder getan?
    Nur ein einziges Mitglied hatte seine individuelle Grenze überschritten und Stellung bezogen: Alle anderen waren dem Wunsch ausgewichen, eine Klärung und Versöhnung zum Wohle der gesamten Gruppe wiederherzustellen.

Klarheit schaffen

Ich sehe eine enge Verbindung zwischen dem Setzen und dem Überschreiten von inneren Grenzen. Auf der einen Seite schaffe ich Klarheit für mich und Andere, in dem ich entsprechend kommuniziere, was mir wichtig ist. Auf der anderen Seite traue ich mich aber auch, genau dies zu verdeutlichen und dafür einzustehen.

Ich habe es nicht allein in der Hand, ob ein Streit oder Konflikt entsteht, wenn ich die Bedürfnisse anderer Menschen nicht kenne. Gleiches gilt, einen Konflikt zu deeskalieren oder einen Streit zu beenden. Denn das betrifft immer alle Betroffenen gleichermaßen. Eine Vermeidung von Streit oder Konflikt darf daher nicht dazu führen, die eigene angemessene Grenzsetzung zu vernachlässigen.

Wenn ich es also schaffe, meine innere Haltung bestimmt und dennoch freundlich zu kommunizieren, stärkt mich das selbst und verschafft mir Respekt bei anderen Menschen. Das entspricht einer klaren Positionierung für mich selbst und schafft Orientierung für Andere.

Grenzen im beruflichen Kontext

Klare Positionierung und Orientierung ist für uns Menschen auch im Berufsleben wichtig. In meiner Funktion als Vorgesetzter setze ich Grenzen, in dem ich einen Rahmen für meine Mitarbeiter schaffe, innerhalb dessen sie sich frei bewegen können. Das dazu notwendige Vertrauen zu entwickeln und den Freiraum auch tatsächlich zuzulassen, bedeutet für mich als Führungskraft, eigene Grenzen zu überschreiten.

Umgekehrt gilt dies auch für mich als Mitarbeiter. Ich erhalte einen Freiraum, mit dem ich lernen muss, eigenverantwortlich umzugehen. Das erfordert das Verlassen meiner persönlichen Komfortzone und damit das Überschreiten meiner bisherigen Grenzen. Von mir wird gleichzeitig erwartet, dass ich Grenzen setze, also meinem Vorgesetzten gegenüber deutlich ausspreche, was ich mir und in welchen Schritten zutraue. Damit übernehme ich noch mehr Verantwortung für mein Leben.

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, wenn Sie innere Grenzen überschritten haben oder anderen Menschen gegenüber Grenzen gesetzt haben?

Ich freue mich über Ihr Feedback, gern persönlich,
herzlichst
Ihr Christian Nourney

 

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